Mauerfälle der Mystik_Tagungsprogramm mit Abstracts
Tagungsprogramm mit Abstracts
Mauerfälle der Mystik. Eine Spurensuche zu Mechthild (von Magdeburg) und zum
"Fließenden Licht der Gottheit" in religiösen Netzwerken, Ordenslandschaften und
literarischen Diskursen im mitteldeutschen Raum des 13. Jahrhunderts
Interdisziplinärer Workshop, 9.-11. September 2016, Bibliotheca Albertina Leipzig
Jun.-Prof. Dr. Caroline Emmelius (Düsseldorf) und Dr. Balázs J. Nemes (Freiburg) in Verbindung
mit dem Handschriftenzentrum Leipzig (gefördert von der VolkswagenStiftung)
Handschriftliche Funde der letzten Jahre, besonders die spektakuläre Entdeckung eines
Fragments des „Fließenden Lichts der Gottheit“ in Moskau im Jahre 2008 waren Anlass zur
Ausrichtung eines Workshops, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine grundlegende
Neubewertung der Überlieferung und Rezeption des Buchs Mechthilds (von Magdeburg?) im
mitteldeutschen Raum anzustreben und dabei vermeintliche Gewissheiten und lieb
gewordene Denkgewohnheiten zu einem zentralen Werk der geistlichen Literatur des
Mittelalters neu zu überdenken.
Das unten abgedruckte Programm und die zu einzelnen Vorträgen mitgeteilten Abstracts
geben einen Einblick in die Themengebiete, Fragestellungen und Ergebnisse eines Workshops,
der sich als Beitrag zur Erforschung der Kulturtopographie des mitteldeutschen Raums im
späten Mittelalter versteht. Entsprechend wurden in den einzelnen Sektionen die regional-
und ordensgeschichtlichen Kontexte beleuchtet, in die das „Fließende Licht“ und seine
lateinische Übersetzung („Lux pinitatis“) entstehungs- und rezeptionsgeschichtlich
eingebettet sind; Textbezüge zu Konzepten zeitgenössischer Frömmigkeit untersucht und der
Versuch unternommen, den Ort des „Fließenden Lichts“ in der Geschichte volkssprachiger
Literatur insgesamt präziser zu bestimmen.
Neben den Vorträgen wurden zwei offenere Arbeitsphasen in das Vortragsprogramm
integriert, die der Präsentation von ausgewählten Leipziger Handschriften und der Vorstellung
und Diskussion der kurz vor dem Erscheinen stehenden Neuedition der „Lux pinitatis“ galten.
An allen drei Tagen präsentierten in ausgedehnteren Pausen fünf junge Kolleginnen und
Kollegen am Beispiel von wissenschaftlichen Postern Forschungsprojekte, die in den weiteren
Horizont des Workshop-Themas gehören.
Programm
Freitag, 09. September 2016
13.15 Caroline Emmelius (Düsseldorf) / Balázs J. Nemes (Freiburg i. Br.): Einführung
I. Mechthild zwischen Dominikanern und Zisterziensern: Personen, Institutionen,
Netzwerke
Moderation: Pater Walter Senner OP (Rom) / Anneke B. Mulder-Bakker (Groningen)
14.00 Jörg Voigt (Stade/Erfurt): Predigerbrüder und Frauenmystik. Zur cura monialium der
Dominikaner in Mitteldeutschland im 13. und 14. Jahrhundert
Im 13. und 14. Jahrhundert sind in Mitteldeutschland zahlreiche Frauen- und Männerklöster
gegründet worden. Eine besondere Stellung nahmen dabei die Zisterzienserinnenklöster ein,
deren Anfänge eng mit der herrschaftlichen und religiösen Differenzierung des
Untersuchungsraumes im Übergang zum Spätmittelalter zusammenhingen.
Dies trifft auch für die Bettelorden zu, die sich in mehreren größeren Städten niederließen,
wie zum Beispiel in Erfurt, das eine unangefochtene Stellung als Zentralort in
Mitteldeutschland und weit darüber hinaus besaß. Zu den herausragenden geistlichen
Institutionen dieser Stadt zählte der Konvent der Dominikaner, der im 13. Jahrhundert zu
einem der bedeutendsten Studienorte des Predigerordens aufstieg und der in engem Kontakt
zu Nonnenklöstern und religiös lebenden Frauen stand.
Anknüpfend an die älteren und gerade an die in jüngster Zeit erzielten Forschungsergebnisse
soll ein Überblick über die Rolle der Dominikaner bei der cura monialium gegeben werden,
vor allem vor dem Hintergrund der einzigartigen Ausprägung der sog. Frauenmystik. Anhand
der schriftlichen Überlieferung zum Zisterzienserinnenkloster Oberweimar und den dort
lebenden Nonnen soll an einem Fallbeispiel versucht werden, die Beziehungen zwischen
Dominikanern und Frauenklöstern detaillierter vorzustellen.
15.00 Klaus-Bernward Springer (Münster): Mechthild von Magdeburg und der Predigerorden
16.15 Cornelia Oefelein (Kremmen): Gründung und mittelalterliche Geschichte des Klosters
St. Marien zu Helfta - ein Überblick unter Berücksichtigung neuer Funde
Das Kloster St. Marien zu Helfta ist vor allem wegen der drei Mystikerinnen, die dort im 13.
und 14. Jahrhundert lebten und schrieben, bekannt. Deren Werke sind nicht nur zum
Gegenstand intensiver Forschungsarbeit geworden – die neuesten Funde werden ja in diesem
Workshop diskutiert –, sondern haben das wieder auferstandene Kloster Helfta heute zu
einem neuen Wallfahrtsort werden lassen, der jährlich Tausende von Pilgern anzieht.
Umso erstaunter muss man feststellen, dass die Forschung sich bisher mit der institutionellen
Geschichte dieses Klosters nur am Rande befasst hat. Eine Gesamtdarstellung fehlt bis heute.
Es überwiegen kurze Überblicke, die in den Einführungen der zahlreichen Arbeiten über die
Helftaer Mystik gegeben werden. Während Literaturwissenschaftler und Theologen sich kaum
über Materialmangel beklagen können, wird die Arbeit des Historikers hingegen durch
Quellenmangel erschwert. Nur wenige schriftliche Quellen zur institutionellen Geschichte
Helftas sind überliefert. So müssen die Informationen über die Geschichte Helftas etwas
mühsam aus verschiedenen, zum Teil sehr verstreuten Quellen und schwer zugänglicher
Literatur zusammengestückelt werden. Die Archiv- und Bibliotheksbestände des Klosters
wurden im Laufe seiner bewegten Geschichte wiederholt vernichtet, darunter eine Chronik,
die 1525 im Bauernkrieg zerstört wurde. Das gerettete Copialbuch von 1521, auf das das
gedruckte Urkundenbuch von Max Krühne (1888) basiert, ist nicht vollständig. Zur Geschichte
Helftas müssen unbedingt noch die Chroniken des bekannten Historikers Cyriacus
Spangenberg (*1528-†1604) herangezogen werden. Ihm lagen noch viele Quellen im Original
vor, die heute alle als verschollen gelten.
Der kurze Überblick zur institutionellen Geschichte des Klosters in meinem Beitrag wird
besonderes Augenmerk auf die sich aus meiner Forschungsarbeit ergebenden notwendigen
Korrekturen der (noch weiterhin zitierten) bisherigen Darstellungen lenken.
17.15 Posterpräsentationen: Amy Nelson (Notre Dame), Cultivating Communities: The Society
and Spirituality of Female Premonstratensians and Their Patrons in Medieval Central Europe
/ Luise Czajkowski (Leipzig), Sprachwandel in den Klöstern von Mansfeld im Spätmittelalter
und der Frühen Neuzeit
18.15 Workshop 1: Handschriftenpräsentation
Moderation: Christoph Mackert (Leipzig)
Almuth Märker (Leipzig): Zeugnisse der Helfta-Rezeption in Leipziger Handschriften um 1300
Im Workshop 1 werden drei Beispiele handschriftlicher Überlieferung von Texten im Umfeld
der Helftaer Mystik vorgestellt. Sie stammen aus dem mitteldeutschen Raum, heute gehören
sie zum Bestand der Universitätsbibliothek Leipzig. Die Präsentation erfolgt im Original. Diese
Überlieferungszeugen zeigen, wie schon zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich bereits im frühen
14. Jahrhundert, die Rezeption über Helfta hinaus in das sächsische Umfeld reichte:
Der Erfurter Dominikaner Dietrich von Apolda integrierte in seine „Vita sancti Dominici“ Teile
des „Fließenden Lichts“ Mechthilds in lateinischer Übersetzung. Diese Vita fand neben
anderen Texten Eingang in die Handschrift Ms 846, die den ältesten Textzeugen darstellt. Die
Handschrift fällt durch die sorgsam ausgeführte Buchmalerei für sechs Zeugen im
Zusammenhang des Kanonisationsprozesses des Ordensgründers auf. Der Besitzvermerk
verweist auf das Dominikanerkloster Pirna südöstlich von Dresden.
Die Handschrift Ms 671, ebenfalls aus dem frühen 14. Jahrhundert, stammt aus dem
Zisterzienserkloster Altzelle bei Nossen. Sie enthält unter anderem den „Liber specialis
gratiae“ Mechthilds von Hackeborn, ergänzt um die Vita der großen Helftaer Äbtissin Gertrud.
Auffällig sind verschiedene Arten von Gebrauchsspuren (Textkorrekturen, Nota-Zeichen,
Kapitelverzeichnis), die das eindringliche Interesse an Mechthild und Gertrud im
Zisterzienserkloster Altzelle im 14. Jahrhundert belegen.
Beträchtliche Teile des „Legatus pinae pietatis“ Gertruds von Helfta sind in der Handschrift
Ms 827 überliefert, in sonst nicht bekannter Weise ergänzt um Sondergut aus der Feder ihrer
Helftaer Mitschwester, der sog. Schwester N. Auch hierbei handelt es sich um den ältesten
bekannten Überlieferungszeugen. Ihre Lokalisierung führt in das südlich von Leipzig gelegene
Benediktinerkloster Pegau.
Die vorgestellten Beobachtungen werden dem Workshopcharakter entsprechend zur
Diskussion gestellt.
Samstag, 10. September 2016
II. Mechthild in Helfta? Literarisches Leben im Zisterzienserinnenkonvent
Moderation: Sara S. Poor (Princeton)
09.00 Balázs J. Nemes (Freiburg): Der Literaturbetrieb von Helfta um 1300. Akteure und
Werke
„Tu deinen Mund auf und iss, was ich dir geben werde.“ Der Adressat dieser Anweisung ist
der alttestamentliche Prophet Ezechiel, der von Gott angehalten wird, eine Schriftrolle zu
essen, ihren Inhalt sich einzuverleiben und die sich auf diese Weise angeeigneten Worte
Gottes zu verkünden (vgl. Ez 2,8ff.). In jenen Texten des Mittelalters, die unter der
literaturhistoriographischen Ordnungskategorie ‚mystische Literatur‘ subsumiert werden,
steht das Geschriebene meistens nicht am Beginn des Offenbarungsprozesses, sondern ist
sein Produkt. Bemerkenswerterweise stellt die Schriftwerdung des Offenbarten in den Texten
ein Thema für sich dar. Anders gesagt: Die Texte reflektieren die Bedingungen ihrer
Entstehung; sie legen Wert darauf, den Leser in die Umstände ihrer Genese einzuweihen.
Dies gilt auch für die Helftaer Offenbarungsliteratur, deren textintern präsentierte
Buchentstehungsgeschichten die deutliche Signatur von Schwester N, einer namentlich nicht
bekannten Konventualin, tragen, von deren schriftstellerisch-kompilierender Hand auch die
vor Kurzem entdeckte Sonderedition des „Legatus pinae pietatis“ in der Leipziger
Handschrift Ms 827 zeugt. Für gewöhnlich werden die im Helftaer Schrifttum gemachten
Aussagen über die Entstehungsumstände der einzelnen Werke als kulturgeschichtlich
verwertbare Fakten referiert, die über tatsächliche Schreibprozesse informieren. Doch zeigt
der Prolog der Sonderausgabe des „Legatus“, wie Autorschaft modelliert und
Schreibszenarien kreiert werden können, was die Frage nach dem Referenzwert vieler faktisch
anmutender Details rund um die Buchgenesen, aber auch in Bezug auf die Figurationen von
Autorschaft aufwirft.
Ohne diese Implikationen des Themas aus den Augen zu verlieren, widme ich mich in meinem
Vortrag den Produkten der um 1300 tätigen Literaturwerkstatt von Helfta. Einleitend werde
ich Spuren literarischer Interessenbildung bei jenen Grafenhäusern nachgehen, aus deren
Reihen sich die Gründer des Vorgängerkonvents von Helfta rekrutieren. Der Blick auf die
Anfänge von Helfta ist insofern aufschlussreich, als die Akteure, mit deren Namen der
Literaturbetrieb um 1300 verbunden ist, Nachfahren der Förderer von Helfta bzw. der Stifter
des Vorgängerkonvents waren. Diese Akteure haben in verschiedenen Funktionen zur
Entstehung eines Textcorpus beigetragen, das nach einhelliger Meinung der Forschung nicht
nur Werke mit Offenbarungscharakter, sondern auch solche umfasst, die aus
seelsorgerischem Anliegen heraus verfasst wurden. Welche Werke mit Helfta tatsächlich in
Verbindung stehen und welche wohl nicht, möchte ich im Einzelnen erläutern. Dabei gilt es,
sowohl den Inhalt der neu aufgefundenen Leipziger Handschrift Ms 827 zu berücksichtigen,
als auch die Argumente auf den Prüfstand zu stellen, die die Forschung veranlasst haben, das
„Fließende Licht“ und die „Exercitia spiritualia“ dem Helftaer Literaturbetrieb um 1300
zuzuschlagen.
10.00 Sandra Linden (Tübingen): Du solt si erlúhten und leren (FL VII,8). Zur Wechselwirkung
von Alterssignatur und Lehrautorität im 7. Buch des „Fließenden Lichts“
Der Beitrag verfolgt eine Lektüre des siebten Buchs, das mehr als die übrigen Bücher des
„Fließenden Lichts“ ein lehrhaft-didaktisches Register bedient (vgl. Suerbaum 2009) und –
wohl aufgrund der geringeren ästhetischen Durchformung – in der Forschung weniger
Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Überlieferung hingegen zeigt ein deutliches Interesse für
die Texte in diesem Buch, was an Handschrift C (Colmar, Stadtbibliothek, Ms. CPC 2137) und
vor allem an Handschrift W (Würzburg, Franziskanerkloster, Cod. I 110) nachverfolgt werden
soll – hier scheinen gerade die lehrhaften Passagen und Gebrauchstexte, die Formen des
religiösen Vollzugs beschreiben oder auch direkt wörtlich vorgeben, attraktiv zu sein.
Im siebten Buch sind die Themen Krankheit und Tod in besonderem Maße präsent, was die
frühere Forschung auf eine reale Lebenslaufchronologie der historischen Figur Mechthild
zurückgeführt hat. Der Vortrag will jedoch nicht auf die Autorfigur Mechthild fokussieren,
sondern setzt mehrere textproduzierende Akteure voraus und versteht die
Lebenslaufchronologie vor allem als eine textuelle Strategie (hier auch ein kurzer Rekurs auf
VII,65 in den Handschriften Mo [Moskau, Bibliothek der Lomonossow-Universität,
Dokumentensammlung Gustav Schmidt, Fonds 40/1, Nr. 47] und W). Die Alterstopoi fügen die
einzelnen Textstücke als dominantes Narrativ zu einer Einheit zusammen und ergeben über
den Aspekt der Lebenserfahrung zudem eine Legitimierung der Lehrautorität und eine
Aufforderung zur imitatio. Hier ergeben sich Verbindungen zu Textstrategien, die vor allem im
oberdeutschen Überlieferungskontext des „Fließenden Lichts“ präsent sind: Das menschliche
Lebenslaufschema, das dem Alter den Status der Lehrautorität zuweist, ist ein in der
dominikanischen Viten- und Offenbarungsliteratur beliebtes Narrativ. Es zeigt sich häufig in
Texten mit einer starken Redaktortätigkeit wie etwa den Schwesternbüchern, die im 14.
Jahrhundert im südwestdeutschen Raum entstehen, wohl weil das Fortschreiten eines
Menschenlebens ein einfaches, unmittelbar einleuchtendes und somit redaktionell günstiges
Sinnbildungs- und Ordnungsmuster für einen Fundus nur locker verknüpfter Visions- und
Offenbarungstexte bilden kann.
Das Lebensalterschema bringt eine veränderte Perspektive auf die mystische Gott-Seele-
Einheit im FL mit sich: an die Stelle des aktuellen unio-Erlebnisses tritt für die „gealterte Braut“
der Rückblick bzw. die Anleitung jüngerer Bräute auf der Basis des erworbenen Wissens. Das,
was in früheren Kapiteln als das Unsagbare wortreich umschrieben wird, kann in der Distanz
des Rückblicks als gesichertes Wissen vermittelbar werden; eine Analyse von Kapitel 17 soll
zeigen, wie mit den Personifikationen bekantnisse und gewissede über diese neue
Wissenskommunikation reflektiert wird.
III. Das „Fließende Licht“ und die zeitgenössische Literatur
Moderation: Annette Volfing (Oxford) / Markus Vinzent (London/Erfurt)
11.30 Racha Kirakosian (Harvard): Das Herz-Jesu-Motiv im „Fließenden Licht“
12.30 Natalija Ganina (Moskau): In fine mundi tempore Antichristi: Zur Eschatologie
Mechthilds von Magdeburg
Die Eschatologie Mechthilds von Magdeburg wurde in der bisherigen Forschung nur in
allgemeinen Zügen zusammengefasst, während die Frage nach der Verortung ihrer
apokalyptischen Vorstellungen in der mittelalterlichen Tradition ein Forschungsdesiderat
bleibt. Einerseits handelt es sich um ein entwickeltes komplexes Bild, das als eine Offenbarung
begriffen wird. Die persönliche Rolle Mechthilds ist dabei an sich nicht zu bezweifeln, weil die
eschatologische Perspektive zur Begründung ihres eigenen Fortlebens herangezogen wird (FL
VI.15) und von ihrem Zielauditorium hervorgehoben und weiter erfasst wird. Weiterhin sind
für viele Bestandteile dieses apokalyptischen Bildes keine Parallelen nachgewiesen, was einen
inpiduellen Beitrag Mechthilds vermuten lässt. Andererseits unterliegt es keinem Zweifel,
dass die Apokalyptik Mechthilds sich auf bereits vorhandene Themen und Topoi stützt. Im
Vortrag werden die wichtigsten Topoi ausgegliedert (Darstellung des Antichrists und der
letzten Zeiten, Henoch und Elias, die letzten Brüder und ihre Mission, römisches Reich) und
im Vergleich zu der lateinischen und volkssprachigen Apokalyptik erörtert. Es wird gezeigt,
dass die Eschatologie im „Fließenden Licht der Gottheit“ sowohl in ihren Hauptmotiven als
auch im Sprachstil als eine dichterische Weiterentwicklung der bereits existierenden Tradition
erscheint. Einmalig sind die Details, die von Mechthild als ‚Zeugin‘ der Geheimnisse mitgeteilt
werden. Die Spezifik der Prophezeiungen Mechthilds vom Weltende wird dabei durch
Interessen und Erwartungen ihres Zielauditoriums, und zwar der deutschen Dominikaner,
völlig bedingt.
15.00 Regina D. Schiewer (Eichstätt): Abstiegs- und Aufstiegsmystik von Mechthild bis
Eckhart: Der Zagel Luzifers und das Paradies in der Hölle
16.00 Workshop 2: Die Neuedition der „Lux pinitas“
Moderation: Caroline Emmelius (Düsseldorf)
Ernst Hellgardt (München), Balázs J. Nemes (Freiburg): Präsentation der Neuedition der „Lux
pinitas“
17.00 Kaffeepause mit Posterpräsentationen: Jonas Hermann (Freiburg), Zur mystischen und
hagiographischen Stilisierung der ‚Lebensbeschreibung der Gertud von Ortenberg‘ / Michael
Hopf (Augsburg), Im Dialog mit dem Meister. Edition und Untersuchung mystischer
Kurzdialoge um Meister Eckhart
IV. Mystikrezeption im mitteldeutschen Raum
Moderation: Freimut Löser (Augsburg)
18.00 Claire Taylor Jones (Notre Dame): Exemplarität und Legitimierung. Zu den Visionen aus
der „Lux pinitatis“ in der Dominikus-Vita Dietrichs von Apolda
In seiner zwischen 1286 und 1297 verfertigten Dominikus-Vita verwendet der Erfurter
Dominikaner Dietrich von Apolda mehrere Visionen aus der „Lux pinitatis“ Mechthilds von
Magdeburg. Der zum Teil unterschiedliche, an manchen Orten jedoch präzisere Wortlaut der
Vita im Vergleich mit dem lateinischen Text der „Lux“ ließ Simon Tugwell vermuten, dass
Dietrich schon eine deutsche Fassung des „Fließenden Lichts“ zu Händen hatte, bevor er an
die ebenfalls in Erfurt entstandene lateinische Übersetzung kommen konnte. Durch einen
sorgfältigen Vergleich einer stark abweichenden Stelle aus der Dominikus-Vita mit den
entsprechenden Stellen aus der lateinischen „Lux pinitatis“ zeige ich, dass die Unterschiede
nicht einer deutschen Mechthild-Quelle entstammen, sondern Dietrichs eigener Absicht
entsprechen. Am Ende des 13. Jahrhunderts waren die Missbräuche im Dominkanerorden
bereits so auffällig, dass sie erste Reformversuche hervorriefen. Dietrich von Apolda, so meine
These, gehörte zu den Reformern und gerade die Tatsache, dass Mechthilds „Lux“ Lob des
Dominikus in Kritik an den zeitgenössischen Dominikanern einbettet, schafft dem
Hagiographen nützliches Material.
19.00 Matthias Eifler (Leipzig): Mystikrezeption bei den Kartäusern und Benediktinern in
Erfurt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts
Sowohl in dem 1060 gegründeten und 1451 der Bursfelder Kongregation angeschlossenen
Erfurter Benediktinerkloster St. Peter und Paul als auch in der 1372 gegründete Kartause St.
Salvatorberg wurden bis zum Ende des Mittelalters umfangreiche, jeweils über 1000 Bände
umfassende Bibliotheken angelegt. Untersucht wird, in welchem Umfang in beiden Klöstern
mystische Schriften der Helftaer Autorinnen sowie anderer Mystikerinnen (z. B. Birgitta von
Schweden) rezipiert wurden. Zu fragen ist, welche Personen besonderen Anteil an der
Rezeption der Werke der Mystikerinnen hatten und in welchem Kontext ihre Schriften
überliefert wurden. Thematisiert wird auch der Austausch von Handschriften und
Textvorlagen zwischen beiden Klöstern.
Aus der Kartause hat sich ein um 1475 vom Bibliothekar Jacobus Volradi und seinen Helfern
angelegter Bibliothekskatalog erhalten, mit dessen Hilfe sich rekonstruieren lässt, welche
Werke mystischer Autorinnen zu diesem Zeitpunkt im Kloster vorhanden waren. Dies betrifft
v. a. die Signaturengruppe I mit Visionsliteratur. Außer Volradi war an der Verzeichnung des
Bestandes ein anonymer Mitarbeiter beteiligt. Die von ihm in den 1480er Jahren geschriebene
Sammelhandschrift D 5/1 (Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Q 51) vermittelt einen
exemplarischen Einblick in die Lektüre- und Studienpraxis in der Erfurter Kartause, auch im
Hinblick auf Auseinandersetzungen über die mystische Theologie. Es soll versucht werden,
den Schreiber, der sich in diesem Codex an zwei Stellen frater N. nennt, zu identifizieren. Dass
dieser Schreiber sich intensiv mit mystischen Texten auseinandersetzte, zeigt auch ein Eintrag
in einer Handschrift des „Liber specialis gratiae“ der Mechthild von Hackeborn (Eisleben,
Stiftung Luthergedenkstätten, H 546). Danach zog Bruder N. zum Textabgleich eine
vollständige Handschrift des Werks aus dem Besitz des Erfurter Benediktinerklosters heran,
was zeigt, dass Codices und Textvorlagen zwischen beiden Klöstern hin- und hergingen.
Aus dem Erfurter Benediktinerkloster ist kein mittelalterlicher Bibliothekskatalog überliefert.
Anhand der erhaltenen Bände (von ca. 1.000 Bänden konnten ungefähr 600 ermittelt werden)
und der darin überlieferten Signaturen lässt sich aber das Profil und die Aufstellung der
Bibliothek rekonstruieren. Die Rezeption mystischer Schriften erfolgte im Rahmen der
monastischen Lektüre, die nach dem Anschluss an die Bursfelder Kongregation neue
Bedeutung erlangte. Besonders Nikolaus von Eger († 1501/02), einer der produktivsten
Schreiber des Klosters, scheint ein ausgeprägtes Interesse an mystischen Schriften, auch der
Helftaer Autorinnen, gehabt zu haben. In einer Sammelhandschrift kopierte er um 1490-95
neben Heiligenviten und Reformtexten den „Legatus pinae pietatis“ der Getrud von Helfta
(Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Q 49). Einen 1424 angelegten Band mit den
Offenbarungen der Heiligen Birgitta (Stockholm, Schwedische Nationalbibliothek, A 63)
überarbeitete er und fügte Texte hinzu. Neben vollständigen Texten der Helftaer Autorinnen
wurden auch Exzerpte ihrer Schriften überliefert. Dies betrifft etwa die sog. Oracio Mechtildis,
einen Ausschnitt aus Buch VI der „Lux pinitatis“, die in zwei Handschriften des Klosters
überliefert ist.
Sonntag, 11. September 2016
V. Die Sprache(n) des „Fließenden Lichts“
Moderation: Caroline Emmelius (Düsseldorf) / Nigel F. Palmer (Oxford)
9.00 Almut Suerbaum (Oxford): Mechthild und Minnesang? Versuch einer neuen Antwort auf
alte Fragen
10.00 Nikolai Bondarko (St. Petersburg): Textbildende Sprachmuster und Stiltradition(en) des
„Fließenden Lichts der Gottheit“, oder: Gibt es bei Mechthild von Magdeburg einen
inpiduellen Stil?
Die Frage nach der Existenz eines inpiduellen Stils bei Mechthild von Magdeburg scheint
längst beantwortet zu sein, jedoch sind einige klassische Antworten, die in der älteren
Forschung vorgeschlagen worden waren, in den letzten Jahren relativiert worden 1. Eine der
sich bietenden Möglichkeiten besteht in einer systematischen Beschreibung der
metaphorischen und phraseologischen Textebene. In diesem Bereich ist tatsächlich viel
1
Eine knappe Übersicht der wichtigsten Positionen in der aktuellen Forschung siehe in: Caroline Emmelius,
Mechthilds Klangpoetik. Zu den Kolonreimen im „Fließenden Licht der Gottheit“, in: Elizabeth Andersen, Ricarda
Bauschke-Hartung, Nicola McLelland, Silvia Reuvekamp (Hg.), Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung
zwischen Konvention und Innovation. 22. Anglo-German Colloquium Düsseldorf, Berlin/Boston 2015, S. 263-
286, hier S. 266 Anm. 13.
geleistet worden. So beschrieb Grete Lüers bereits 1926 Mechthilds metaphorische Bilder für
Seele, Gott und unio mystica sowie suchte nach „Nachklängen“ des Minnesangs, der
Alltagssprache und natürlich der Kirchensprache2. In der späteren Forschung wurde der
bisherige Befund auf die moderne Metapherntheorie hin (mit besonderem Augenmerk auf die
sogenannte Sprengmetaphorik) überprüft und in den modernen Wissensstand integriert 3.
Doch vermag die Beschreibung der mystischen Bildersprache, wie wichtig und unentbehrlich
sie auch ist, die Frage nach dem Stil des „Fließenden Lichts“ nicht zu erledigen. Die Antwort
ist vielmehr auf dem Weg einer möglichst präzisen Abgrenzung der inpiduellen Leistung
eines Autors von „kollektiven Voraussetzungen, wie sie ihm in der allgemeinen sprachlichen
Bildung […] geboten werden“4, zu suchen. Der Begriff der „allgemeinen sprachlichen Bildung“
ist jedoch in dem Sinne zu präzisieren, dass es vor allem um die Sprache der geistlichen
Tradition mit ihren Konventionen und vorgeprägten Mustern geht.
Es bietet sich, den personalen Stil auch als Strategie der Auswahl von sprachlichen Bildern und
syntaktischen Mustern zusammen mit der Häufigkeit deren Gebrauchs, mit deren Varianz und
Kombinatorik zu betrachten. Auf diesem Weg wird das einzigartige in Mechthilds Stil im
Kontext dessen gesucht, was im „Fließenden Licht“ (FL5) und in anderen geistlichen Schriften
des 13. Jahrhunderts wiederholt wird. Viele sprachliche und textuelle Muster in Mechthilds
Werk können verschiedenen Gattungstraditionen zugeordnet werden: so gibt es Beispiele für
die gnomische Rede (es sei auf die Analyse von Ernst Hellgardt zu einer Spruchsammlung im
Kapitel IV,4 des FL verwiesen6), geistliche Unterweisung, höfische Lyrik, Allegorese,
Brautschaftslyrik in Anlehnung an das Hohelied, Gebet, visionäres Narrativ usw.
Unter Wiederholungen aller Art fallen bei Mechthild Anaphern mit Isokola besonders auf
(siehe z. B. FL I, Kap. 22-23; II, Kap. 10; III, Kap. 2). Als Beispiel für ein auf dieser Basis
entstehendes produktives Textmuster sei ein Schema genannt, das auf die Worte Mt 23,11-
12 zurückgeht („Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird
erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“). Inhaltlich wird es mit einem
Paar von Propositionen konstituiert, die sich in Relation der indirekten Proportionalität
befinden. Auf dem syntaktischen Niveau ist diese Struktur in mittelhochdeutschen Texten
durch Vergleichssätze mit ie… ie und Komparativ vertreten. Bei Mechthild wird sie sowohl
produktiv, d. h. in sich mehrfach wiederholenden isokolischen Strukturen, als auch vereinzelt
gebraucht. Beim textproduktiven Gebrauch kann dieses Muster zur Wiedergabe der
gradualistischen Gedankens instrumentalisiert werden: So wird in FL I,22 die Transformation
und Überwindung einer Reihe der von der Seele erlebten Zustände und Empfindungen als
sukzessiven Kontemplationsphasen dargestellt: Ie si langer tot ist, ie si vroelicher lebt; / ie si
vroelicher lebt, ie si mer ervert; / ie si minner wirt, ie ir mer zůflússet... / ie si richer wirt, ie si
armer ist; / ie si tieffer wonet, ie si breiter ist… [FL I,22, S. 39,26 – 40,19]. Die antithetische
Komponente in dieser Realisierung des Musters ist bis hin zur Paradoxie getrieben, wobei das
traditionelle semantische Muster ‚je weniger, desto mehr‘ grundsätzlich geändert ist.
Diese Ausdrucksweise mittels indirekt proportionaler Oppositionspaare entspricht dem
Modell der „unähnlichen Ähnlichkeit“ zwischen dem sprachlichen Bild und dem referenziellen
2
Grete Lüers, Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg,
München 1926.
3
Siehe vor allem: Michael Egerding, Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, Bd. 1–2, Paderborn 1997.
4
Klaus Grubmüller, Vocabularius Ex quo. Untersuchungen zu lateinisch-deutschen Vokabularen des
Spätmittelalters, München 1967 (MTU 17), S. 9.
5
Es wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Gisela Vollmann-Profe (Hg.), Mechthild von Magdeburg. Das
fließende Licht der Gottheit: zweisprachige Ausgabe, Berlin 2010.
6
Ernst Hellgardt, Darbietungsformen geistlicher Inhalte im Werk Mechthilds von Magdeburg, in: Timothy R.
Jackson u.a. (Hg.): Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, Tübingen 1996, S. 319-337, hier
S. 327-329.
Sinn, wenn beim Menschen „Denken und Sein, Sprache und Gegenstand auseinanderfallen“7.
Wenn man in diesem Zusammenhang auf den von Mt 23,11-12 vorgegeben Konzept des
indirekt proportionalen Verhältnisses zwischen dem menschlichen Handeln im Diesseits und
der Belohnung im Jenseits kommt, so vermisst man darin eben diese referenzielle
Unähnlichkeit, denn ein klar bestimmtes Verhältnis zwischen dem menschlichen und dem
göttlichen Bereich ist doch – trotz Inversion – da. Inzwischen transformiert Mechthild dieses
Modell, wenn sie solche anscheinend antithetischen Zustände wie „reich und arm sein“ im ie…
ie-Schema vorbringt: (1) ie si richer wirt, ie si armer ist. Denn das traditionelle Modell, in dem
der irdische materielle Armut dem himmlischen geistigen Reichtum gleichgestellt ist, würde
wie folgt aussehen: „Je ärmer sie (im Diesseits) ist, desto reicher wird sie (im Jenseits)“.
Stillschweigend gilt es natürlich auch für die Gegenüberstellung des himmlischen und
irdischen Reichtums. Also: die Attribute „arm“ und „reich“ kann man nur unter der Bedingung
gleichstellen, wenn diese Merkmale auf gegenübergestellte Bereiche bezogen sind. Bei
Mechthild beziehen sich die beiden Antonyme auf den gleichen, und zwar geistigen Bereich.
Dieser Satz bedeutet: ‚Geistiger Reichtum führt zum geistigen Armut‘. Darin liegt die
eigentliche Paradoxie, die den Verlauf des mystischen Prozesses treffend beschreibt. Um eine
Antithese geht es dabei nicht, sondern „vielmehr… um den Umschlag aus dem Bereich der
Ähnlichkeit in die absolute Differenz“8. Dieser Sinn ist interessanterweise auch durch die
Grammatik des Satzes gekennzeichnet. Der Prozess des Wandels wird durch das ingressive
Verb werden im ersten Satzteil wiedergegeben, während das Verb sîn im zweiten Teilsatz nicht
eine durative Handlung bezeichnet, sondern eine resultative Bedeutung hat.
Wenn man das deutsche geistliche Schrifttum des 12.-15. Jahrhundert in einer einheitlichen
Perspektive und im Rahmen einer gemeinsamen spirituellen Tradition betrachtet, so sind die
sprachlichen Strategien Mechthilds von Magdeburg als teilweise kritische Reaktion auf
althergebrachte, noch auf die zisterziensische Stilistik des 12. Jahrhunderts zurückgehende
Muster der traditionellen Sprache aufzufassen. Mechthild ist tatsächlich bestrebt, in ihrem
sprachlichen Handeln den grundsätzlichen Abgrund zwischen dem Sein und der verbalen
Aussage über das Sein zu überbrücken. Jedoch bleibt bei ihr das traditionelle semantische und
sprachlich-poetische System unzerstört, denn letztendlich ist die Architektonik des „Fließenden
Lichtes“ durch dieselben Quellen vorbestimmt. Indem Mechthild die alten textbildenden
Muster und Modelle uminterpretiert und deren Basiselement umbildet, bleibt sie trotz alledem
im Rahmen der spirituellen Tradition, die sie somit bereichert und entwickelt.
11.00 Posterpräsentation: Aleksandra Belkind (Moskau), Zeitorientierung der
Wahrnehmungsakte im „Fließenden Licht der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg
11.45 Wolfgang Beck (Jena): Mechthild in Würzburg? Oder: Über Prämissen und Folgen von
Schreibsprachenbestimmungen
Die Überlieferungssituation des „Fließenden Lichts der Gottheit“ ist mehrstufig: Es wird davon
ausgegangen, dass die im Kreise der sog. Basler Gottesfreunde entstandene alemannische
Umschrift auf eine mittelniederdeutsche bzw. elbostfälische Vorlage zurückgeht. Die
alemannische Umschrift bildet den Ausgangspunkt der weiteren erhaltenen Überlieferung,
die in diatopischer Hinsicht oberdeutsch dominiert ist: Neben der Haupthandschrift
Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277 (1014) in oberrheinischer Schreibsprache wird den
Handschriften der Teilüberlieferung bairisch-österreichische Schreibsprache (Budapest,
7
Walter Haug, Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens, in: Kurt Ruh (Hg.): Abendländische
Mystik im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 494-508, hier S. 496.
8
Ibid., S. 497.
Ungarische Nationalbibliothek, Cod. Germ. 38), elsässische Schreibsprache (Colmar,
Stadtbibliothek, Ms. CPC 2137) und ostfränkische Schreibsprache (Würzburg,
Franziskanerkloster, Cod. I 110) attestiert. Die Reste der Handschrift Moskau, Bibliothek der
Lomonossow-Universität, Dokumentensammlung Gustav Schmidt, Fonds 40/1, Nr. 47
präsentieren sich in einer Schreibsprache, die niederdeutsche und mitteldeutsche Merkmale
gleichermaßen aufweist und damit dem Lebensraum der Mechthild (von Magdeburg) sehr
nahe steht.
Schreibsprachenbestimmungen spielen bei der Rekonstruktion der Textgeschichte und der
Überlieferungsgeschichte eine wichtige Rolle. Im Vortrag soll gezeigt werden, dass
Schreibsprachenbestimmungen nicht immer rein objektiv Sachverhalte wiedergeben, sondern
von bestimmten Prämissen abhängig sein können, die ihrerseits auch Folgen für die
Überlieferungsgeschichte haben. Die Schreibsprache der Würzburger Mechthild-Handschrift,
die im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich beurteilt worden ist, soll einer kritischen Revision
unterzogen werden. Daran lässt sich die Verflechtung von überlieferungsgeschichtlichen
Prämissen und schreibsprachlichen Befunden exemplarisch zeigen.
12.45 Catherine Squires (Moskau): Mechthild-Neufunde der letzten Jahre und
überlieferungsgeschichtliche Fragen aus linguistischer Sicht
Im Mittelpunkt der Darstellung stehen zwei handschriftliche Funde aus den letzten Jahren –
beide aus dem mitteldeutschen Raum: die deutschen Moskauer Mechthild-Fragmente aus der
UB Moskau (Provenienz: Halberstadt) und die aus der Erfurter Kartause stammende Berliner
Handschrift des 15. Jahrhunderts. Für die erste wurde das Ende des 13. Jahrhunderts als
Entstehungszeit angenommen (Karin Schneider und Klaus Klein in Ganina/Squires 2010), was
eine nahe Beziehung des Moskauer (Halberstädter) Fragments zum Archetyp (dem Original)
voraussetzte, und zwar nicht nur in ihrem Alter, sondern auch in ihrer räumlichen Provenienz
und Herkunft aus dem niederdeutschen Halberstadt.
Da alle vorher bekannten handschriftlichen Quellen durch eine große Distanz zur originalen
Niederschrift der Offenbarungen der im ostfälischen Sprachraum geborenen und im Kloster
Helfta verstorbenen Mystikerin charakterisiert waren, und die ostfälische sprachliche
Herkunft Mechthilds und ihre niederdeutsch-mitteldeutsche Umgebung (Magdeburg, Helfta,
Halberstadt) in der Überlieferung nicht zur Geltung kam, wurde für die entdeckte Quelle mit
Recht eine sehr hohe stemmatische Stellung anerkannt (sogar die qualitätvollste Einsiedelner
Handschrift ist durch mehrere Zwischenstufen vom Archetyp getrennt, Paul Gerhard Völker
1967; Gisela Kornrumpf in Vollmann-Profe), und die gesamte deutsche Mechthild-
Überlieferung basierte auf der alemannischen Übertragung der Gottesfreunde aus Basel.
Dabei aber ging aus den von Hans Neumann und Gisela Vollmann-Profe unternommenen
Konjekturen die Annahme eines niederdeutschen Originals hervor. Sprachhistoriker waren in
der Abwesenheit von deutschen Mechthild-Handschriften Magdeburger bzw. ostfälischer
Provenienz ausschließlich auf rekonstruierende Forschungsmethoden angewiesen, die auf
Annahme eines niederdeutschen Originals basierten.
Tatsächlich weist die Moskauer Quelle niederdeutsche Sprachzüge auf, aber eine
Sprachanalyse (Squires 2010) hat gezeigt, dass, abgesehen von kleineren überregionalen
Einsprengseln sie mitteldeutsch mit niederdeutschen Zügen ist, und zwar aus md. Perspektive
omd. mit einzelnen konkreten thüringischen und obersächsischen Zügen, aus der mnd.
Perspektive – auch östlich, ostfälisch, genauer elbostfälisch. Zusammenfassend wurde das ins
13. Jahrhundert datierte Fragment in den Grenzraum des südlichen Ostfälischen und des
angrenzenden nord-östl. Md. zu lokalisieren. Diese Lokalisierung, in die geographische Ebene
verlegt, schließt Halberstadt, Magdeburg, aber auch Halle, Eisleben mit dem Kloster Helfta mit
ein.
Dieser ndt.-mdt. Charakter darf (so Hans Neumann 1948/1950) zur künstlerischen Art der
mechthildischen Mystik passen: als eine mehrschichtig stilisierte Ausdrucksform, die zwar in
der Bahn der religiös-mystischen Schöpfung der Zeit liegt, aber gleichzeitig auch ein poetisches
Werk im literarischen Kontext des 12./13. Jahrhunderts ist. Anders sieht ähnliche
Mehrschichtigkeit Thomas Klein (2003, so auch in Hermann Paul): als eine hybride ndt.-mdt.
Schreib- und Reimsprache der “hochdeutsch schreibenden Niederdeutschen”, die er bei einer
Reihe von literarischen Denkmälern des 11./12. Jahrhunderts, auch in ostfälischen Fassungen,
offenlegt.
Für diese hybride Sprachform gibt Th. Klein charakteristische Merkmale an; diese waren
weiter zu präzisieren für Quellen, die einen Orientierungswechsel aufweisen: von einem
westmdt. Vorbild (Reimbibel A, aus Werden) zu einem omdt. Vorbild in ihrer Abschrift
(Reimbibel-Hs. C aus Halberstadt). In den Rahmen dieser Kennzeichen einer für Halberstadt
und Ostfalen festgestellten typischen hybriden hdt.-ndt. Form passt auch die Moskauer
Mechthild-Quelle.
Spätere Entwicklungen im 13./14. Jahrhundert, der Übergang zum Mndt. (Th. Klein) und
wachsender Einfluss des Thüringischen (Bentzinger 2012-2013) bilden einen mundartlich-
schreibsprachlichen Rahmen, mit dem die Berliner Handschrift aus der Erfurter Kartause zu
vergleichen ist. Das Ergebnis erlaubt uns, zwischen einem kontinuierlichen Verhältnis der
Handschrift aus Erfurt zur ältesten ostfälischen Handschrift (aus Halberstadt) und einer
unabhängigen mdt. Tradition der Handschriften der Kartause zu unterscheiden. Diese
sprachsystematischen Hinweise können einen wesentlichen Beitrag zur
Überlieferungsgeschichte Mechthilds leisten.
13.45 Caroline Emmelius (Düsseldorf) / Balázs J. Nemes (Freiburg i. Br.): Abschluss und
Ausblick